Zwei Ausstellungen im Rahmen des WWTF-Forschungsprojektes STOP AND GO. Nodes of Transformation and Transition
xhibit der Akademie der bildenden Künste Wien // und Stop and Go Projektraum Nordwestbahnhof
Pan-europäische Verkehrskorridore bezeichnen die Verkehrsverbindungen zwischen dem ehemaligen Osten und Westen Europas, deren Ausbau ein Kern-Projekt der EU-Infrastrukturplanung darstellt: Dabei handelt es sich um Monumente der Modernisierung von Staaten und Staatenverbänden, um außergewöhnliche technische Leistungen und finanzielle Investitionen, die unter politischem und ökonomischem Druck (und mitunter gegen ökologische Argumente und von Konflikten begleitet) geplant, errichtet und ausgebaut werden. Dementsprechend sind sie einer strikten Kontrolle (oder einem Kontrollwillen) unterworfen. Gleichzeitig stellen sie jedoch seit jeher auch Imaginationsarsenale dar, an denen sich eine Vielzahl an Träumen (und Alpträumen) von Individuen und Institutionen festmachen lassen: von Wirtschaftswachstum, Völkerverständigung bis zu Truppenaufmärschen seitens der staatlichen Institutionen, von der motorisierten Flucht aus dem kleinbürgerlichen Haushalt oder dem als entfremdeten empfundenen Alltag bis zu Arbeitsmigration und der Flucht aus Kriegsregionen. Diese Korridore operieren wie »Magnete« (Steward 2014; S. 552), die sowohl Dinge als auch Individuen anziehen, die sich auf ihnen bewegen, an ihnen lagern und deren Erfahrungen und Erlebnisse in den Statistiken der Kontrollorgane, den News-Clips der Massenmedien, in den Alltags-Geschichten der Straßenbenutzer_innen und Anrainer_innen, in Forschungsberichten und künstlerischen Arbeiten verzeichnet werden.
Von besonderem Interesse sind Orte, an denen der Verkehrsfluss aus unterschiedlichen Ursachen anhält oder abgehalten wird – wie Bus-Terminals, Parkplätze für den internationalen Lastkraftwagenverkehr (TIR), Logistik-Zentren, Autobahnraststätten, formale und informelle Märkte und Grenz-Stationen entlang der Straßen. An diesen Schwellen in der Mobilitätslandschaft lassen sich sowohl Strategien staatlicher und suprastaatlicher Institutionen und großer Unternehmen ablesen, wie sie Mobilitätsströme kontrollieren, als auch die unterschiedlichen Routen, Motive und Mobilitäts-Biographien der sie passierenden Akteur_innen. Mitunter verwandeln sich dabei vermeintlich anonyme, geschichtslose »Nicht-Orte« (an denen bestenfalls Objekte miteinander kommunizieren) zu intimen Ankern im Alltag der multilokalen Existenz hochmobiler Subjekte, an denen diese Rituale und Routinen entwickeln, um sich zu erholen, Kontaktaufnahmen an die Ziel- und Quellregionen in Gang zu setzen, aber auch um vor Ort fragmentierte Gemeinschaften zu pflegen. Dabei entsteht ein dynamischeres Modell multilokaler Urbanität aus miteinander vernetzten »Archipelagos«, die jeweils nur Stationen einer Tour von Individuen oder Objekten in ihren Vehikeln darstellen. Sie sind jedoch nicht stetig, sie können durch neue Knoten ersetzt, obsolet werden und verwahrlosen. Informelle Knoten können formalisiert und kontrolliert werden, und an anderen Orten können neue informelle Knoten entstehen. Diese repräsentieren »polyrhythmische« Ensembles aus statischen Architekturen, mobilen Objekten und Individuen, die abhängig von den täglich, wöchentlich oder saisonal wechselnden Rhythmen des Verkehrsflusses zu unterschiedlichen Nutzungsdichten anwachsen und schrumpfen. Augenscheinlich sind hier menschliche Mobilitätsformen untrennbar mit nicht-menschlichen und nicht-materiellen Mobilitätsformen verbunden, deren dynamische Netzwerke und Hierarchien Techniken einer vielschichtigen Kartografie nahelegen.
Ein zentraler kuratorischer Aspekt des Projektes ist das Ausloten von Bedeutungsverschiebungen in unterschiedlichen Kontexten: im Gegensatz zum auratischen White Cube im xhibit der Akademie werden Arbeiten aus den Werkkomplexen der Teilnehmer_innen auch im externen Stop and Go-Forschungslabors in einem aktiven Rail-to-Road-Güter-Terminal – einem Ort mit pragmatischem Themenbezug, »authentischer« Atmosphäre und jeder Menge Mobilitäts-Expertise – inszeniert. Dort wird den Besucher_innen auch eine umfangreiche Bibliothek und Videothek zum Thema zu Verfügung stehen. Zudem werden an drei Filmabenden in der ehemaligen Kantine der Spedition PANALPINA die abendfüllenden Filme, die in der Ausstellung als Installationen laufen, vorgeführt werden.
Stewart, Kathleen (2014). Road Registers. Cultural Geographies 21, 4: 549–563.
Die Beiträge in dieser Ausstellung stammen von Architekt_innen Anthropolog_innen, Historiker_innen, Geograf_innen, Journalist_innen und Künstler_innen.
Gerd Arntz, Boris Despodov, Thomas Grabka, Martin Grabner, Michael Hieslmair, Kurt Hörbst, Helmut Kandl, Johanna Kandl, Emiliya Karaboeva, Mindaugas Kavaliauskas, Matthias Klos, Las Vegas Studio, Sonia Leimer, Vesselina Nikolaeva, Katarzyna Osiecka, Zara Pfeifer, Tarmo Pikner, Lisl Ponger und Tim Sharp, Maximilian Pramatarov, Ed Ruscha, SOMAT-Archiv, Allan Sekula und Noël Burch, Gabriele Sturm, Tanja Vukosavljevic, Ina Weber, Želimir Žilnik, Michael Zinganel
Kuratoren: Michael Hieslmair & Michael Zinganel
Einen zentralen Teil der Arbeiten der Ausstellung bilden die drei Case Studies aus dem WWTF-geförderten Forschungsprojekt Stop and Go. Nodes of Transformation and Transition, das die (postsozialistischen) Veränderungen von Knoten transnationaler Mobilität und Migration entlang der paneuropäischen Verkehrskorridore in einem geografischen Dreieck zwischen Wien, Tallin und der Türkisch-Bulgarischen Grenze untersucht. Das Forschungsprojekt wurde geleitet von Michael Zinganel und Michael Hieslmair, Wien in Kooperation mit Tarmo Pikner, Tallinn und Emi Karaboeva, Sofia.
SOMAT war zu sozialistischen Zeiten das staatliche bulgarische Monopolunternehmen für LKW-Lastentransorte nach Westeuropa und in den nahen und fernen Osten. Dementsprechend bedeutend war das Unternehmen. Neben dem Netzwerk der Firma und den offiziellen Routen entwickelten die Fahrer eigene Netzwerke, um Waren zu schmuggeln, und so einen beträchtlichen Zuverdienst zu generieren – und zudem über die Konsumartikel aus dem Westen den sozialen Status ihrer Familie zu erhöhen. In der Hafenstadt Tallinn mündet ein Straßenverkehrskorridor in eine leistungsfähige Fährverbindung nach Helsinki, die Arbeitsmigranten aus Estland nutzen um in Finnland Arbeitsmarkt ihr Glück zu versuchen, während Touristen aus Finnland wegen der eklatant niedrigeren Preise – insbesondere für Alkohol – als Touristen in Tallinn einfallen, sodass der Schiffsfahrplan der großen Fähren maßgeblich die Rhythmen der Bewegungen in der Stadt prägen. Am Beispiel der Geschichte und räumlichen Verlagerung der Internationalen Busterminals in Wien, den von ihnen ausgehenden Routen, der Passagiere und des Imagewandels von Busreisen, lassen sich auch die Transformationen eines weiter reichendenden geopolitischen Raumes nachzeichnen, von der Gastarbeiteranwerbung in den 1960er, über den Fall des eisernen Vorhanges bis zur Flüchtlingswelle des Spätsommers 2015.
Zu diesen Forschungsergebnissen siehe auch das Magazin dérive Ausgabe Nr. 63/ April 1996, Schwerpunkt: Korridore der Mobilität – Knoten, Akteure, Netzwerke. > Link zur Zeitschrift.
Nachdem das Magazin ist vergriffen, hier der link zu einem PDF mit unseren Beiträgen: derive-no63/2016 Themenschwerpunkt: Korridore der Mobilität – Knoten, Akteure, Netzwerke
Den zweiten Hauptbestandteil bilden Arbeiten, die uns im Rahmen der Recherchen und Recherche-Reisen (wieder-)begegnet sind: von historischen Forschungs-Methoden, die mittlerweile mehrere Generationen inspiriert haben, wie beispielsweise dem Las Vegas Studio, geleitet von Robert Venturi und Denise Scott Brown mit Studierenden der Yale University (1968), das die Architektur einer an einem Straßenverlauf entwickelten Unterhaltungsökonomie aus dem semiotischen Fokus von Straßennutzer_innen untersuchte, über Mindaugas Kavaliauskas langjährige Beobachtungen der Obsession der systembedingt verzögerten individuellen Motorisierung in Litauen, die nach dem Fall des eiserenen Vorhanges u.a. auch riesige Secondhand-Automärkte hervorgebracht hat (1990-2015), bis zu aktuellen Arbeiten von Sonia Leimer, die ausgeschnittene mind. 1 m2 große Stücke Straßenasphalt samt Gebrauchsspuren als isolierte Fragmente des städtischen Raums zu einer mehrdeutigen archäologischen, psycho-analytischen, politischen und poetischen Interpretation freigibt (2015).
M.Z.